Sie sind hier: Startseite Was wir tun News Dr. Stephanie Boye - Die Spionin, …

Dr. Stephanie Boye - Die Spionin, die hinter die Texte schaut

Die ehemalige wissenschaftliche Koordinatorin des ACT, Dr. Stephanie Boye, eröffnet in ihrer kürzlich veröffentlichten Dissertation neue Perspektiven auf die französisch-senegalesische Literatur. Indem sie eine afrozentrische Perspektive auf verschiedene Texte einbringt, untersucht sie den unübersetzbaren senegalesischen Begriff "jom". Ihre ungewöhnliche Karriere ist eng mit ihrer Zeit im Senegal verbunden, und ihre Forschungen spiegeln den reziproken Ansatz der ACT wider.

Als Spionin bezeichnet zu werden, ist eine ungewöhnliche Zuschreibung für eine Literaturwissenschaftlerin und Ethnologin. Doch genau so beschrieb es die senegalesische Autorin Fatou Diome bei dem öffentlichen Gespräch mit Stephanie Boye an der Uni Zürich, nachdem sie erfahren hatte, worum es in Stephanie Boyes Doktorarbeit gehen sollte: „Sie sagte, ich sei eine Spionin, weil ich hinter den Text schaue – und ich fand zunächst, dass sich Spionin nicht so nett anhört, aber eigentlich ist genau das mein Anliegen. Ich möchte gern etwas aufdecken, das nur implizit im Text bzw. hinter der Textoberfläche eingewoben ist.“

Das hat sie geschafft. Stephanie Boye, von 2020-2021 wissenschaftliche Koordinatorin am ACT, schaut in ihrer gerade publizierten Doktorarbeit „Jom – dignité – honneur. Literaturethnologische Untersuchungen zu einem kulturellen Konzept aus dem Senegal. Mariama Bâ, Ken Bugul, Fatou Diome und Marie NDiaye“ buchstäblich hinter die französischsprachige Oberfläche der Romane und das sehr erfolgreich: Summa cum Laude! Doch ihr Weg dahin war alles andere als gewöhnlich.

Sekretärin, Mutter, Doktorandin: Stephanie Boyes Weg zur Wissenschaft

1966 in Marburg geboren, dann nach Freiburg gezogen, absolvierte Stephanie Boye zuerst eine Ausbildung zur Tierarzthelferin, und später eine zweite als Fremdsprachensekretärin. Doch sie wollte weg, aus Freiburg, in die weite Welt. Geplant waren drei Monate im Senegal, doch was als kurze Reise begann, entwickelte sich zu sieben prägenden Jahren. Sie lernte dort ihren Mann kennen und arbeitete als Reiseleitung und Hoteldirektorin. Wegen des ersten gemeinsamen Kindes ging es für die junge Familie allerdings wieder zurück nach Deutschland, wo Stephanie Boye halbtags als Sekretärin arbeitete, zunächst an der Uniklinik, dann in der Romanistik.

Ihr damaliger Vorgesetzter, Prof. Dr. Thomas Klinkert, erkannte ihr Potenzial für die Wissenschaft, was sie selbst gar nicht in sich gesehen hatte. Er ermutigte sie, ihre Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben und ein Studium anzufangen. Stundenweise freigestellt, setzte sie sich ab da neben dem Job als Sekretärin und ihrem Leben als mittlerweile alleinerziehende Mutter mit Romanistik und Ethnologie auseinander. „Das war wahnsinnig anstrengend. Die Leute haben gesagt: das schaffst du nie.“ Doch sie schaffte es mit ausgefüllten Tagen zwischen Lehrveranstaltungen, Berufstätigkeit, Hausarbeit und Kindererziehung; immer einen Schritt nach dem anderen.

Als ihre von Prof. Dr. Gregor Dobler betreute Masterarbeit anstand, sollte sie ursprünglich – so der Wunsch einer Dorfbewohnerin – ein Buch über ein senegalesisches Dorf schreiben. Aber: „Das wäre einfach zu viel meine eigene Stimme gewesen!“. Sie entschied sich dafür, die Menschen ihre Geschichten in einem Film selbst erzählen zu lassen. „Das Buch des senegalesischen Dorfes Guelakh“ lässt die Zuschauer für 70 Minuten in die Lebenswirklichkeit der Dorfbewohner eintauchen und ist in Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort entstanden. Schon da taucht also das Konzept der Reziprozität und der Afrikazentriertheit in ihrem Forschungsansatz auf, auch wenn das manchmal mehr Aufwand bedeutete: „Wir machen das gemeinsam, auch wenn das heißt, dass man sich aktiv mit der Gemeinschaftlichkeit auseinandersetzen muss.“

Nach der erfolgreich abgeschlossenen Masterarbeit bot Thomas Klinkert, mittlerweile Professor für Französische Literaturwissenschaft in Zürich, Stephanie Boye an, eine Doktorarbeit bei ihm zu schreiben: „Eine unglaubliche Möglichkeit – wer bekommt schon die Betreuung einer Doktorarbeit einfach so angeboten?“ Prof. Dr. Gregor Dobler erklärte sich bereit, den ethnologischen Teil des Dissertationsprojekts als Zweitbetreuer zu begleiten. Stephanie Boye entschied sich, diese außergewöhnliche Chance zu ergreifen, auch wenn das natürlich eine noch größere Herausforderung darstellte – noch mehr Zeitaufwand, nochmal vier Jahre quasi keine Freizeit zwischen Arbeit, Wissenschaft und Familie.

Die Doktorarbeit: Das Ungesagte, das Konzept von „Jom“ und der Perspektivwechsel

Bei der Themenfindung kam auch hier wieder das Thema Reziprozität auf: „Die wichtige Frage ist: was kann ich von dem ‚Anderen‘ lernen? Dabei geht es darum, eine möglichst afrozentrische Perspektive einzunehmen, um einen neuen Blick auf die literarischen Texte zu ermöglichen und die in ihnen enthaltenen gesellschaftlich relevanten Themenbereiche genauer zu beleuchten.“

Denn Stephanie Boye ist der Meinung, dass es eine Ungleichheit im Diskurs zwischen Europa und Afrika gibt – und zwar in einer Richtung: „Die europäische Seite ist diskursiv stark unterwegs, alles wird diskutiert, reflektiert, kritisiert, thematisiert, über alle möglichen Themen. In Afrika gibt es Themen, die nicht thematisiert werden. Und das nicht-Thematisieren tut beiden Seiten nicht gut.“ Auf die Frage hin, was denn ein Beispiel für ein diskursloses Thema ist, lacht sie und deutet auf das frisch gedruckte Buch vor ihr: genau darum geht es in der Arbeit!

Die zentrale Fragestellung ihrer Dissertation dreht sich um das Konzept jom in der senegalesischen Kultur – ein unübersetzbares Wort, das verschiedene Facetten umfasst. Senghor nennt es ‚senegalesisches Ehrgefühl‘. In den untersuchten Romanen wird an manchen Stellen, so Boyes Hypothese, das Konzept jom durch die Wörter ‚Würde‘ und ‚Ehre‘ bzw. ‚dignité‘ und ‚honneur‘ übersetzt. Doch diese Begriffe werden dem Konzept jom nicht gerecht. Es geht Stephanie Boye nicht darum, das Konzept jom zu erklären, sondern aufzuzeigen, dass es eine wichtige Funktion in den Romanen der senegalesisch-stämmigen Autorinnen Mariama Ba, Ken Bugul, Fatou Diome und Marie NDiaye hat.

Stephanie Boye nutzt die Methode der „ethnocritique“, um eine möglichst afrozentrische Perspektive auf die Texte einzunehmen und durch einen interdisziplinären wissenschaftlichen Methodenmix Wörter und Symbole zu verstehen, die auf afrikanisch-senegalesische Symbolsysteme verweisen. Die Autorinnen stellen, so das Ergebnis, nicht nur das Konzept jom in ihren Texten dar, sondern sie kritisieren es als althergebrachtes kulturelles Konzept, das erneuert werden müsste, um weiterhin Gültigkeit zu haben. Doch über dieses Konzept wird in der heutigen senegalesischen Gesellschaft kein offener Diskurs geführt, der prüft „ob dieses traditionelle Konzept heutzutage noch valabel sein kann. Ohne Diskurs stirbt es aber, weil es nicht in der Lage sind, sich an neue gesellschaftliche Gegebenheiten anzupassen.“

Die Geschichte vom Baobab-Baum

Ein Beispiel für den Perspektivwechsel und für eine kritische Betrachtung von jom ist Stephanie Boyes Analyse des Baobab-Baums in Ken Buguls Roman Le baobab fou. Boye erklärt es so: „Aus europäischer literaturwissenschaftlicher Sicht wirkt die Geschichte widersprüchlich, denn in der europäischen Literaturtradition sind Bäume stets positiv konnotiert; sie stehen für Tradition, Stärke, Schutz etc. Warum stirbt der Baum dann am Ende von Ken Buguls Roman?

Betrachtet man den Baobab aus einer senegalesischen Perspektive, wird deutlich, dass das nicht einfach irgendein Baum ist, sondern dass es sich um das heilige Symbol, das Emblem des Senegals handelt. Baobabs sind eng mit den Geschichtenerzählern verbunden, ambivalente Figuren, die sowohl Gutes als auch Schlechtes berichten konnten. Sie spielten (und spielen) eine besondere Rolle in der Gesellschaft, waren gefürchtet und geachtet zugleich. In früheren Zeiten wurden ihre Leichen in hohlen Baobabs zur Ruhe gelegt.

Diese Perspektive erlaubt einen neuen Blick auf den Erzählverlauf des Romans, denn der mächtige Baum zeigt plötzlich auch eine bedrohliche Seite. Er symbolisiert erstarrte Traditionen, die die Ich-Erzählerin gefangen halten. Der Mangel an Anpassungsfähigkeit (durch den fehlenden gesellschaftlichen Diskurs) lässt den Baobab und mit ihm die traditionellen Konzepte – bspw. jom – verstummen und so stirbt der Baum am Ende des Romans.“

Diese neue Sichtweise auf den Roman bleibt einer klassischen, eurozentrierten Literaturwissenschaft verborgen. Diese Perspektive kann Stephanie Boye u.a. dadurch eröffnen, da sie Wolof spricht. Sie hat sich die Mühe gemacht, diese senegalesische Sprache auch lesen und schreiben zu können. Vor allem die Erfahrungen, die sie durch ihre Zeit im Senegal gemacht hat, ermöglichen einen besonderen Blick auf die literarischen Texte: „Ich sage immer, ich habe erst das Leben studiert, und dann ein Studium an der Universität begonnen.“

Auch zukünftig in der Wissenschaft?

Stephanies Forschung und die Arbeit des ACT verbindet ein gemeinsames Ziel: Afrikanisches Wissen zu verstehen, es sichtbar und hörbar zu machen. Das spiegelt sich auch in der Zielsetzung und Haltung des ACT wider, die Stephanie Boye als wissenschaftliche Koordinatorin mitgestaltet hat. Das Logo hat sie auf der Basis der in Côte d’Ivoire und Ghana verwendete Symbolsprache Adinkra entworfen, es ist ein Zeichen für Wissen: „Es geht darum, unsere Vorannahmen zu reflektieren, um das Miteinander, und darum, einander zu verstehen!“

Stephanie Boye ist nicht nur mit ihrer Doktorarbeit, sondern auch mit ihrem ungewöhnlichen Weg zur Wissenschaft und ihrer persönlichen Geschichte diesem Ziel schon sehr nahegekommen. Auf die Frage, ob sie sich auch in Zukunft in der Wissenschaft sieht, sagt sie, dass sie sich gut vorstellen kann, in der Wissenschaftsverwaltung, in Forschung und Lehre tätig zu sein und auch etwas Künstlerisches zu machen. Eine erneute Zusammenarbeit mit dem ACT wäre für sie natürlich sehr interessant.

Einen nächsten Schritt in Bezug auf ihre Doktorarbeit würde sie gerne noch machen: „Ich bin wahnsinnig stolz, dass ich das geschafft habe. Jetzt würde ich die Arbeit nur gern noch auf Französisch übersetzen lassen, damit es in der frankophonen Welt – allen voran dem Senegal – rezipiert werden kann.“ 

Als Spionin hinter den Texten hat Dr. Stephanie Boye aufgezeigt, dass viele Entdeckungen gemacht werden können, wenn wir bereit sind, unbekannte Perspektiven zu eröffnen. In ihrer Forschung hat sie sich dem Unübersetzbaren genähert, Unsichtbares sichtbar gemacht und uns damit neue, andere und wertvolle Einblicke in afrikanische Literatur(en) und Kultur(en) eröffnet.

 

Dr. Stephanie Boyes Arbeit ist in der Nomos eLibrary open access erhältlich:

Jom – dignité – honneur. Literaturethnologische Untersuchungen zu einem kulturellen Konzept aus dem Senegal. Mariama Bâ, Ken Bugul, Fatou Diome und Marie NDiaye